Selbstoptimierung oder Selbsthingabe? Wir alle sind Kinder unserer Zeit, egal ob uns das bewusst ist oder nicht. Egal ob wir das wollen oder nicht. Unser Handeln und Denken wird bedeutend mehr von der Umwelt und vom Mainstream geprägt, als wir das für möglich halten. Ein grosses Thema in unserer Zeit ist die Selbstoptimierung, auch wenn wir es nicht direkt so nennen würden. Doch wir fragen uns, wie werde ich besser? Wie schöner? Wie kann ich meine Leistung steigern und wie kann ich den Glauben gewinnbringend für mich leben? Äh, Moment mal, bist du auch über den letzten Satz gestolpert? Muss der Glaube wirklich gewinnbringend sein? Und was für einen Gewinn soll denn mein Glaube bringen? Und ist im schlimmsten Fall der Glaube wertlos, wenn er mir nicht den gewünschten Gewinn bringt? Fragen, die bei mir immer wieder mal auftauchen. Kurz gefasst: Selbstoptimierung oder Selbsthingabe?

 

Nicht das einzelne Individuum

In der letzten Ausgabe des „Rauchzeichen„, dem Podcast von kath.ch, stellte sich das „Theologische Quartett“ der Frage, was können wir tun, damit das nächste Jahrzehnt zu „Goldenen Zwanziger“ werden. Wie können wir die vielen Herausforderungen der Gesellschaft und Kirche die anstehen so lösen, dass das nächste Jahrzehnt sich positiv entwickelt. Fast am Schluss der Sendung machte die Berner Theologin Andrea Meier eine steile Aussage:

„Der Kirche geht es nicht um das einzelne Individuum und das Heil der Seele und Optimierung des einzelnen Menschen (…).“

Andrea Meier

Der Kirche geht es nicht um das einzelne Individuum und das Heil der Seele?! Diese Aussage traf mich wie eine Bombe. Moment mal, was sagt sie da? Um was geht es dann, wenn nicht um den einzelnen Menschen und das Heil der Seele? Wir Theologen wünschen uns doch, dass die Menschen auch heute noch Gott (neu) begegnen können und dass es in diesen Begegnungen, wie in vielen biblischen Erzählungen, zu einer Lebensveränderung kommt. Wer liegt hier nun falsch? Meier fährt fort: „sondern wir sind eine Gemeinschaft als Kirche und wir haben eine Verantwortung für die ganze Welt, für die ganze Schöpfung.“  Das klingt doch ganz ähnlich, wie der Auftrag den Gott an Adam gegeben hat. <<Und Gott segnete die Menschen und sagte zu ihnen: »Seid fruchtbar und vermehrt euch! Füllt die ganze Erde und nehmt sie in Besitz! Ich setze euch über die Fische im Meer, die Vögel in der Luft und alle Tiere, die auf der Erde leben, und vertraue sie eurer Fürsorge an.>> (1.Mo 1,28).

 

Teil des Ganzen

Die Bibel macht hier anschaulich: Wir Menschen sind Teil des Ganzen, Teil von Gottes Geschichte mit den Menschen. Doch der Mensch ist nicht das Zentrum, die Hauptsache. Das ist unsere Zeit, der Mainstream, der uns einflüstert, dass sich die ganze Welt um uns zu drehen habe. Dass ich der wichtigste Mensch auf der Erde bin und dass der Glaube für mich da ist, damit es mir noch besser geht. Der christliche Glaube aber, der macht uns immer wieder deutlich, dass die Welt sich um Gott dreht. Dass Gott im Mittelpunkt steht (z.B. 5. Mo 4,35 oder Joh 3,30).
Darum führt Andrea Meier aus: „Wenn es uns gelingt, Spiritualität als etwas anzubieten, was für dich nicht noch der ultimative Kick in deinem erfolgreichen Leben ist, sondern was dich herausfordert und was dich auch zwingt, immer wieder Entscheidungen in deinem Leben zu treffen, die das gute Leben nicht nur für dich selbst sondern auch für deinen Nachbarn, die geflüchteten Menschen bedeutet. Dann glaube ich, kann die Kirche wirklich einen entscheidenden Schwerpunkt setzen.“

 

Ich-Krank

Unsere Zeit ist Ich-Krank. Das Individuum zählt mehr als die Gemeinschaft. Das Ich ist wichtiger als die Gesellschaft. Und diese Tendenz wird auch auf den Glauben, auf die Kirche übertragen. Doch diese Ich-Betonung widerspricht zutiefst dem christlichen Glauben. Der Mensch, ja die ganze Schöpfung, wurde auf das Miteinander angelegt. Wenn wir den Glauben auf „was bringt es für mich“ reduzieren, dann begehen wir denselben Fehler wie die Israeliten in der Wüste. Wir tanzen um das Goldene Kalb, um unsere Ideen, um uns selber. Doch ist das noch ein Glaube, der mich auf weiten Raum stellt?

Teil einer grossen Geschichte

Glaube will Hoffnung wecken. Glaube prangert Missstände an. Glaube verändert. Darum braucht unsere Zeit einen Glauben, eine Kirche, die wieder das Miteinander betont und nicht den persönlichen, geistlichen Kick. Mein Glaube wird sich ändern, wenn ich und meine Bedürfnisse nicht mehr im Zentrum des Glaubens stehen. Wenn sich der Blick weitet und ich das grosse Ganze sehe und ich staunen kann, ein Teil von Gottes Geschichte zu sein. Eine Geschichte, die mein Leben einschliesst aber die weiter andauert. In der ich nicht nur ein Statist bin, aber auch nicht die Hauptrolle spiele. Die Bibel ist voll von Geschichten von ganz normalen Menschen, die sich bereit erklärt haben, einen Schritt zurück zu treten und ihr Leben für Gottes Ziele einzusetzen.

Die Kunst der Selbsthingabe

„Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ Sagt Jesus in Johannes 15,13. Ich kann mich selber geben, an diese Welt verschenken. Einen grösseren Kick gibt es wohl nicht! Und das ist die Kirche, von der Andrea Meier spricht. Eine Kirche, die sich hingibt und nicht fordert. Eine Glaubensgemeinschaft, welche die Mitmenschen ins Zentrum rückt, und nicht sich selbst. Eine Organisation, die für die anderen da ist und nicht als Selbstzweck. Ein Glaube, der dem Zeitgeist ein Graus ist, weil er genau das Gegenteil von dem lebt und verkündet, was heute der Mainstream ist.

 

Glaube, der etwas bringt

So ein Glaube wird zum Gewinn. Zum Gewinn für alle, die sich nicht selber mit den Ellbogen nach vorne kämpfen können. Für alle, die nicht zu den Privilegierten gehören. Für die ganze Schöpfung. Ja, und ich bin überzeugt, dieser Glaube wird schlussendlich auch zum Gewinn für uns selber, obwohl wir uns dabei nicht optimieren und uns leistungsfähiger machen. Jesus erklärt dieses Geheimnis so:

Ich sage euch die Wahrheit: Ein Weizenkorn, das nicht in den Boden kommt und stirbt, bleibt ein einzelnes Korn. In der Erde aber keimt es und bringt viel Frucht, obwohl es selbst dabei stirbt.

Johannes 12,24

So ein Glaube verändert, mehr als mich selber. Und das schon hier und jetzt.