Jedes Jahr im Frühling, wenn es an die Planung des neuen Schuljahres geht, stellt sich die Frage: Wie viele Klassen und Lektionen sind möglich? Gewichte ich Kind oder Beruf mehr. Oder gibt es einen goldenen Weg, für Kind und Karriere?

 

Spagat Kind und Karriere

Artikel Migros MagazinNeulich las ich dazu einen Artikel im Migros-Magazin. Der gewählte Titel lässt tief blicken: «Fünf Tipps gegen Schuldgefühle». In der Einleitung dazu heisst es:

«Wer Kind und Karriere hat, kennt es zu gut: Im Beruf und zu Hause alles geben, liegt energietechnisch und zeitlich kaum drin. Ständiger Begleiter ist deshalb für viele Eltern das schlechte Gewissen.»

Tipps vom Profi

Die Autorin gibt fünf Tipps, die sie sich bei Sabine Mühle, Gründerin der Coaching Plattform «Zentrum für Mütter und Väter» holt. Zum Beispiel, man solle auf das fokussieren, was gerade dran ist. Also nicht, dass ich während der Arbeit mit einem schlechten Gewissen an die Kinder denke. Auf der andern Seite aber auch nicht, dass man über Pendenzen im Beruf grübelt, während man dem Fussballtraining des Kindes zuschaut.
Ein weiterer Tipp: Man soll sich fragen, woher denn das schlechte Gewissen kommt, was der Auslöser dafür ist. „Um sich von negativen Glaubenssätzen zu befreien wie zum Beispiel «Ich bin eine schlechte Mutter/ein schlechter Vater, wenn ich auswärts arbeite und mein Kind fremdbetreuen lasse» , hilft ein Coaching weiter.“ Und sobald ich dann weiss, woher dieses schlechte Gewissen kommt, ist nicht nur das schlechte Gewissen weggepustet sondern die Spannung in der Familie hat sich auch gleich aufgelöst. Wenn es so einfach wäre. Und sollte das noch nicht helfen, nehme ich den nächsten Tip und stärke mein Selbstbewusstsein. Sabine Mühle sagt: «Selbstbewusste Personen ringen oft weniger mit einem schlechten Gewissen, weil sie sich ihrer persönlichen Qualitäten bewusst sind und nicht das Gefühl haben, es ständig allen recht machen zu müssen».
Aber kann es sein, dass mein schlechtes Gewissen nicht davon kommt, dass ich es allen recht machen will, sondern weil mir alles zu viel ist und ich merke, wie ich weder mir, meinem Beruf noch meinen Kindern gerecht werde?

 

Was ist mir wichtig

Sabine Mühle gibt dann den wichtigen Tipp: Überleg, was dir wichtig ist im Leben. Und wenn die drei wichtigsten Werte herauskristallisiert sind, kann ich mir überlegen, wie ich diese drei Werte mit Kind und Beruf vereinbaren kann.

Was ist also mir wichtig? Welche Werte sollen zum tragen kommen? In den letzten Monaten durfte ich im Job neue Aufgaben anpacken, Neues aufgleisen und ausprobieren. Mega spannend, doch auch zeitintensiv. An Weihnachten war ich ziemlich ausgepowert und die Geduld mit den Kindern war an einem kleinen Ort. So habe ich mir fürs neue Jahr ein „Kontrollsystem“ eingeführt: Sobald ich aus zeitlichen Gründen das Auto nehmen muss und nicht mehr zu Fuss ins Büro oder in die Schule gehen kann, damit ich mit allem durchkomme, dann ist es einfach zu viel Arbeit. Es wäre noch zu bewältigen, doch steigt die Anspannung, damit ich mit allem durchkomme und dadurch reagiere ich empfindlicher bei den Kindern. Verspätungen bringen den Zeitplan durcheinander, ebenso meine Laune. Und dabei ist es mir doch wichtig, dass ich für unsere Jungs da sein kann. Zuhören, begleiten, unterstützen und geniessen.

So war dann auch schnell klar, dass ich im nächsten Schuljahr nicht mehr Religionsunterricht übernehme. Und da beide Jungs gewünscht haben, dass ich an den Nachmittagen, an denen sie frei haben zuhause bin, waren auch nur noch zwei Nachmittage möglich. Dass dabei mein Arbeitgeber nicht überschwänglich reagiert, ist mir auch klar. Doch ich habe mit Hilfe meiner Werte Prioritäten gesetzt. Die Zeiten werden sich ändern, die Jungs brauchen uns weniger oder anders und dann habe ich wieder ganz andere Möglichkeiten, mich beruflich zu entwickeln. Doch die Zeit mit den Kindern kommt nicht zurück, die kann ich nicht nachholen.

 

Karriere ohne schlechtes Gewissen

Mir ist bewusst, wir als Familie sind in einer privilegierten Situation. Wir sind nicht gezwungen, aus finanziellen Gründen beide hochprozentig zu arbeiten. Wir können es uns „leisten“, dass wir beide Teilzeit arbeiten und immer jemand zuhause ist wenn die Kinder da sind. Auch insbesondere in den Schulferien.

Doch ein schlechtes Gewissen in der Karriereplanung ist gar nicht so schlecht. Denn:

Ein schlechtes Gewissen zeigt uns an, dass irgend etwas nicht stimmt! Wenn unser Gewissen mit guten Werten geprägt ist, lohnt es sich, darauf zu hören. Auch wenn es unangenehm ist und uns herausfordert.

 

Der Wert von Vater- und Mutterschaft

Was ich gegenwärtig in den Expertentips vermisse ist die Wertschätzung von Mutter- und Vaterschaft. Der Fokus liegt immer auf der Frage der Vereinbarkeit von Kind und Karriere. Und man bekommt dabei den Eindruck, dass wir das Familienleben der Karriere, dem Beruf und der Arbeitswelt unterordnen müssen. Schliesslich herrscht doch Fachkräftemangel!

Jeder halb erfolgreiche Sportler ordnet alles seinen Trainingsplänen unter. Sogar das Essen wird danach ausgerichtet. Sportler sind bereit, ihre berufliche Karriere zurückzustellen um im Sport erfolgreich zu sein. Wenigstens für die paar Jahre, in denen reelle Chancen für ihren sportlichen Erfolg bestehen. Warum können wir Väter und Mütter unsere Kinder und Familie nicht auch vorrangig behandeln, für die „kurze“ Zeit in der wir die Kinder prägen und das Familienleben geniessen können bevor unsere Kinder eigene Wege einschlagen? Kennen wir den Wert von Vater- und Mutterschaft? Oder sehen wir nur die Last?

Unsere Gesellschaft braucht dringend Experten, die den Wert von Familie, den Wert von Mutter- und Vaterschaft hervorheben und würdigen. Und die Mut machen, grosszügig und verschwenderisch in diesen Bereich zu investieren, trotz Karriereknick und Fachkräftemangel. Denn was wir in unsere Kinder investieren, was wir der nächsten Generation mitgeben, überdauert unsere Karriere und unsere beruflichen Erfolge bei weitem!