Das menschliche Gehirn ist unglaublich. Schaut man eine alte Foto an, aus der Kindheit, der Jugend oder dem jungen Erwachsenenalter und schon hat man wieder den himmlischen Duft in der Nase, das beklemmende Gefühl im Bauch oder den eigenartigen Klang im Ohr. Die Foto ruft Erinnerungen wach und man fühlt sich in jene Zeit zurückversetzt. Nun kann es aber sein, dass bei den unterschiedlichen Personen auf der Foto auch ganz unterschiedliche Erinnerungen wachgerufen werden. Nicht nur unterschiedliche Gerüche, Klänge und Gefühle, auch ganz unterschiedliche Geschichten. Wer hat nun also das Recht, DIE Geschichte hinter der Foto zu erzählen? Wessen Geschichte ist nun die Wahrheit oder hat das Recht, sich durchzusetzen?
Die Zeit, die es dauert
Wieder einmal bin ich in der Bibliothek über einen Familienroman gestolpert, diesmal von der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik. In ihrem im Jahr 2000 (2019 auf deutsch) erschienenen Roman „Die Zeit, die es dauert“ spürt sie genau dieser Thematik nach. Und sie findet für die Geschichte ihrer Protagonistin Singe und deren Familie keinen besseren Zeitpunkt als Weihnachten: Das Fest der Liebe und Familie. Wir alle verbinden Erinnerungen mit Weihnachten und ebenso löst Weihnachten in uns ganz unterschiedliche Gefühle und Erwartungen aus.
Signe, die ihr Studium unterbrochen hat weil sie in einer Lebenskrise steckt, ist im Sommer mit ihrem Mann und der Tochter in einen alten, heruntergekommenen Bauernhof auf dem Land, des verstorbenen Onkels ihres Mannes gezogen. Nun geht es mit grossen Schritten auf Weihnachten zu. Während es draussen schneit und Signe zusammen mit ihrer Tochter drinnen in der warmen Küche Weihnachtsguetzli backt, meldet sich Besuch an. Die Mutter möchte sie gerne besuchen. Zusammen mit dem Bruder, der in den USA lebt und nun ein paar Wochen Ferien in der Heimat macht. Gefahren werden diese zwei Familienmitglieder vom geschiedenen Vater. Und so versammelt sich nach einigen Jahren wieder die ganze Familie. Kurz vor Weihnachten, einer spannungsvollen Zeit.
Wessen Geschichte
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil erzählt von diesem Zusammentreffen der Familie bei Signe auf dem heruntergekommenen Bauernhof. Die Stimmung ist geschwängert mit den Erwartungen und auch mit den Erinnerungen an Weihnachten. „Wisst ihr noch, …“, beginnt die Mutter. So schön war es damals und auch der Vater stimmt in diese schönen Erinnerungen ein. Doch nach fast zwanzig Jahren lässt Signe Risse in diesem schönen Bild der Erinnerungen sichtbar werden. Die Mutter ist entrüstet. „So war es doch nicht! Es war immer schön.“ Sie versucht, alle auf „ihre“ Seite der Geschichte zu ziehen. Es wird deutlich, dass die Eltern immer sehr bemüht waren, die „Risse“ in ihrer Familie zu vertuschen. Und selbst jetzt, da die Ehe der Eltern ganz offiziell geschieden ist und das Scheitern nicht mehr versteckt werden kann, wehrt sich die Mutter mit Händen und Füssen, dass diese Risse sichtbar werden. Dass diese Risse und der damit verbundene Schmerz der Kinder zum Thema werden darf.
Das friedliche vorweihnachtliche Familientreffen eskaliert ganz, als sich Signe weigert, an einem der Weihnachtstage die Mutter in der Stadt zu besuchen. Für die Mutter ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Signe mit ihrer eigenen, kleinen Familie Weihnachten gestalten und feiern will. „Reiss dich doch zusammen Signe, und verdirb uns nicht die schönen Erinnerungen von Weihnachten“. Doch Signe kämpft um ihre Weihnachten. Und der Kampf endet in der überstürzten Abreise der Mutter, gefolgt von einem schweigsamen Vater und Bruder.
Zurück in die Vergangenheit
Der zweite und auch längste Teil des Buches nimmt uns mit in die Welt der 13-jährigen Signe. Wir erleben, aus ihrer Sicht erzählt, die Adventszeit im dunkeln Tana im nördlichen Norwegen. Doch nicht die Dunkelzeit macht dem Mädchen zu schaffen, sondern die Spannungen in der Familie. Eigentlich, die Spannungen der Eltern. Und Signe nimmt uns mit hinein in eine Kindheit, in welcher Kinder ein Familiensystem vor der Öffentlichkeit verstecken müssen. Wo Eltern die Kinder im Ehestreit auf ihre Seite ziehen wollen. Wo Kinder plötzlich verantwortlich sind, dass es den Eltern gut geht. Eine Kindheit, in der die Kleinsten die Spannungen im System ausbalancieren müssen.
Auf der Rückfahrt von einem Einkaufsausflug ins nahe Finnland eskaliert die Situation wieder, der Vater hält an und will die Mutter und den Bruder mitten im Nirgendwo aus dem Auto werfen. Und zwischen den Fronten steht einmal mehr Signe und versucht, das ganze Gefüge auszubalancieren:
Wenn jetzt irgendwelche Leute vorbeikämen, dann würden sie sehen, dass sie es waren, vielleicht würden sie glauben, dass sie Probleme mit dem Auto hätten, sie würden stehen bleiben, um zu helfen. Die Leute würden nichts davon verstehen, dachte Signe. Niemand würde verstehen, wie es mit ihrer Familie war, wie froh sie waren, wenn sie froh waren, wie schön es war, wenn es schön war. Und dass es wieder besser werden würde. Wenn nur die Mutter und der Vater miteinander reden würden, dann würde es auch diesmal besser werden. Vielleicht würde alles gut werden.
Hanne Ørstavik hat einen ganz besonderen Schreibstil. Es ist ein bisschen so, wie Kinder einem etwas erzählen. Und dies gibt dem Roman einen besonderen Charakter. Durch diesen Stil ist es nicht ein Buch, das süffig zum lesen ist. Man kommt zwischendurch ins Stocken und muss den Satz nochmals lesen. Genau so, wie man bei einem Kind das aufgeregt erzählt, auch zwischendurch nachfragen, muss um zu verstehen. Und doch tauchen wir in eine Geschichte ein, die packt und nicht mehr loslässt bis man zusammen mit Signe wieder in der Gegenwart auftaucht.
Zurück in der Gegenwart
Der dritte und kürzeste Teil des Buches, ist die Weihnachtspost der Mutter. Dieser Brief an Freunde und Verwandte erreicht Signe nach Weihnachten. Nach ihrer ersten Weihnacht, die sie nicht unter dem Diktat der Mutter verbracht hatte. Und dieser Weihnachtsbrief bringt nochmals ganz deutlich zum Ausdruck, dass sich die Wahrnehmung von Signe und der Mutter fundamental unterscheiden. Es sind wie zwei unterschiedliche Erzählungen.
Wessen Geschichte? Wer hat das Recht, sie zu erzählen? Und wem hören wir zu? Wollen wir Signe zuhören, oder lieber nur der Mutter, was sicher einfacher und bequemer ist?
Der Roman macht uns sensibel für den Umgang mit (Familien-) Geschichten. Für den Umgang mit Wahrheit. Für unsere ganz eigene und persönliche Geschichte. Und er sensibilisieret uns für Kinder und Familien, die in versteckten oder offensichtlichen Spannungen leben. Hanne Ørstavik macht uns auch Mut, sich der Vergangenheit zu stellen und einen eigenen Weg zu gehen. Auch wenn es Zeit braucht, bewusst die Richtung zu ändern.