“Mami, ohne dich geht es mir besser!” Die Hintergrundsendung Input von Radio SRF3 berichtete kürzlich über das schwierige Thema, wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen.
Was muss ein Mensch erlebt haben, dass er so einen Schritt tut? Was für Schmerzen stecken hinter solchen Geschichten? In der Sendung kamen zwei Frauen zu Wort. Zwei ganz unterschiedliche Geschichten.

Eine Frau erlebte während der ganzen Kindheit Gewalt. Und auch im erwachsenen Alter wurde sie von ihren Eltern mit Vorwürfen überhäuft. Irgendwann schien es ihr die beste Lösung zu sein, den Kontakt abzubrechen und sich vor den “Übergriffen” zu schützen.

In der zweiten Geschichte gab es keine Gewalt. Im Gegenteil, die Frau war immer der Stolz ihrer Eltern. Bei ihr blieb aber der Beigeschmack, dass ihre Leistungen zum “Vorzeigen” wichtiger für Ihre Eltern seien als sie selber. Sie hatte den Eindruck, ihre Eltern interessierten sich eigentlich gar nicht für sie als Person. Wer sie ist, wie es ihr geht. Alle Versuche, ihr Problem im Gespräch zu lösen, scheiterten, weil die Eltern nicht verstanden, worum es ihr ging.

Komplexes System

In der Sendung kam die Frage auf, warum man als erwachsene Person die Differenz mit den Eltern nicht lösen konnte. Eine wirkliche Antwort wurde dabei nicht gefunden. Für mich wird hier zum einen deutlich, wie komplex Familiensysteme sind. Jeder hat seine Rolle, die er oder sie selbst gewählt hat oder die ihr zugeteilt wurde. Eine solche Rolle zu ändern ist ganz schwierig. Denn damit kommt das ganze Gefüge ins Wanken, und jedes Familienmitglied muss seinen Platz, seine Rolle neu finden. Dann heisst es schnell mal: “Der Sämi war halt schon immer kompliziert” und die Sache ist vom Tisch. Denn es liegt wie immer nur daran, dass Sämi kompliziert ist, eine Extrawurst braucht, aus der Reihe tanzt oder immer gleich laut wird.

Hand aufs Herz: Wer kennt das nicht auch? Mir wurde bewusst, dass ich als Vater zwei unterschiedliche Rollen besetze. Eine Rolle in meiner Herkunftsfamilie, die sich in vielen Jahren verfestigt hat. Und eine Rolle in meiner eigenen Familie, gegenüber meiner Frau und meinen Kindern. Wie schnell reduziert man sich selber auf diese Rolle oder wird darauf reduziert? Und als Eltern, wie schnell “schubladisieren” wir das Verhalten unserer Kinder? Das ist typisch für Evi, sie ist so ganz anders als ihre Schwester.

Das Gefühl, nicht ernst genommen zu sein

Beide Geschichten haben gemeinsam, dass die Frauen sich unverstanden fühlten. Dieses Gefühl, nicht verstanden zu werden, steht oft im Raum, wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Und es kann sogar sein, dass dieses Gefühl auf beiden Seiten, bei Kind und Eltern vorhanden ist.
Doch wie kommt es dazu, dass ein Kind das Gefühl bekommt, von seinen Eltern nicht ernstgenommen zu sein? Was können wir Eltern jetzt tun, damit es bei uns nicht soweit kommt?

Investiere Zeit

Mir wurde neu bewusst, wie wichtig es ist, besonders in einer intensiven Zeit, dass ich, dass wir Eltern, den Kindern wirklich zuhören. Dass wir ihre Fragen, auch die unausgesprochenen, ernst nehmen und nachfragen. Und dass wir ein ungutes Gefühl der Kinder auch mal im Raum stehen lassen und nicht einfach mit einem “das ist doch nicht so schlimm” wegputzen. Ernst nehmen bedeutet auch, dass wir die Situation nicht (sofort) ändern können, aber bereit sind, diese Situation zusammen mit unseren Kindern auszuhalten. Sogar auch durchzuhalten. Nicht einfach. Besonders in unserer Zeit, in der wir es gewohnt sind, dass sich alles per Klick und sofort lösen lässt.

Nehmen wir uns die Zeit für und mit den Kindern. So schnell ist sie vorbei, und andere Menschen werden wichtig für sie. Die Zeit kommt nicht mehr zurück. Doch vieles von dem was uns wichtig erscheint und unsere Zeit beansprucht, stellt sich als belanglos heraus.