Neulich ergab sich in der Kaffeepause eine angeregte Diskussion über Kirchenaustritte, gesellschaftliche Veränderungen und spirituelle Trends. Die Erlebnisse und Erfahrungen, die zusammengetragen wurden, zeigten deutlich in die Richtung von “ich-Spiritualität”. Dabei ist mir die Studie “Spiritualität in der Ich-Gesellschaft” vom Religionssoziologen Jörg Stolz wieder in den Sinn gekommen.

 

Glaube für mich

Viele spirituelle Angebote fokussieren auf die Bedürfnisse der einzelnen Person. Und manche Kirchen, egal welcher Ausprägung, steigen ebenfalls auf diesen Trend auf. Glaube muss mir dienen. Meine Sorgen, meine Probleme, meiner Herausforderungen, meine Vergangenheit – all das soll und kann mit dem Glauben, mit der richtigen Spiritualität gelöst werden. Doch dabei fokussiert sich der Blick auf mich als Person. Auf meine Sorgen. Auf das, was ich nötig habe, oder zumindest glaube, nötig zu haben.

Beim genauen Hinschauen fällt oft auf, dass das Zentrum eines solchen Glaubens nicht mehr Gott ist, sondern das eigene Ich. Gott bekommt die Rolle des “Dienstleisters”.

 

Blickwechsel

Um so spannender fand ich den Podcast, den ich mir nach diesem Pausengespräch anhörte. Das Studienzentrum für Glaube und Gesellschaft der Universität Freiburg stellt immer wieder interessante Beiträge online. Im Podcast  diskutieren drei junge Theologen leidenschaftlich zusammen. In der besagten Folge kamen sie auf eine Ikone, oder besser gesagt, auf ein Mosaik aus dem 13. Jahrhundert in der Hagia Sophia zu sprechen. Das Motiv dieser Ikone wird mit dem Fachbegriff “Deesis” beschrieben und meint die Bitte, die an Gott gerichtet wird. Auf diesem Bild ist in der Mitte Jesus zu sehen, der von seiner Mutter Maria und Johannes dem Täufer umrahmt ist. Beide richten ihre Bitte an Jesus. Beide richten ihren Blick auf Jesus aus. Und indem sie ihren Blick auf Jesus richten, wenden sich die zwei Bittenden sich gegenseitig zu. Ihr Blick geht weiter, über ihre Bitte, über den um Hilfe gebetenen Jesus hinaus. Es findet ein Blickwechsel statt. Von den eigenen Sorgen zum Gegenüber, das auch mit ihrer/seiner Bitte zu Jesus kommt.

 

Der Blick öffnet sich

Mich fasziniert dieses Bild der “Deesis”. Es nimmt die Not des Bittenden ernst. Aber es bleibt nicht beim Bittenden stehen. Der Blick öffnet sich und der oder die Bittende nimmt ein Gegenüber wahr, das auch ein Bittender ist. Die Bittenden schauen weiter als nur zu den eigenen Sorgen. Der Blick geht auch weiter als nur zu dem, von dem sie Hilfe erwarten. Und indem sich der Blick öffnet, geschieht etwas Heilsames. Jesus selbst machte im Liebesgebot deutlich, dass wir Gott und den Nächsten so lieben sollen, wie uns selbst. Das ist nicht einfach nur als Pflicht, als schier unlösbare Aufgabe an uns Menschen gedacht. Es ist auch als “Medizin” für uns Menschen gedacht, die wir doch immer wieder in Sorgen und Problemen stecken. Denn wer sich nur mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigt, der verpasst ganz schnell das Leben um sich herum.

 

Ins Zentrum gerückt

Der Berner Troubadour Mani Matter sang schon 1970 in seinem Lied “Dene wos guet geit” davon, dass sich nichts ändert, wenn wir den Blick nicht von uns weg und dem anderen zuwenden. Die Deesis-Ikone verdeutlicht, dass wir uns nicht einfach für die anderen und ihre Nöte aufopfern sollen. Doch wenn wir Jesus, den Christus ins Zentrum rücken, dann treten wir aus der Isolation heraus. Dann kommen wir aus der “Ich-Welt” heraus. Dann sind wir nicht alleine gelassen. Wir erleben, dass die Gemeinschaft derer, die auf Jesus hoffen, eine Quelle der Kraft ist. Weil Christus im Zentrum steht und nicht länger unsere Sorgen und Nöte.